Gruppe 3

Moral

Das gute Gewissen der Klassengesellschaft

OrtArbeit und Leben, Lange Geismar Str. 72, Göttingen
Zeit28.11.1998 ab 12:00h
Die Menschen sind im Kapitalismus alternativlos auf die ökonomischen Einrichtungen verwiesen, die es gibt: Sie müssen sich des Geldes bedienen, um an die Dinge des Bedarfs heranzukommen und das Geldverdienen und seine Voraussetzungen daher zu ihrem Interesse machen. Die Menschen beziehen sich berechnend auf die jeweils vorgefundenen ökonomischen Erwerbsquellen, um sie zu nutzen. Der kalkulatorische Umgang mit den ökonomischen Einrichtungen wird für die Bestimmung dieser Sachen genommen. Insofern hat jeder in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren ökonomischen Einrichtungen eine Welt voller – allenfalls ungleich verteilter – Chancen vor sich. Diese haben allerdings den Haken, daß sie einen beliebigen Gebrauch gar nicht zulassen; allzu vielen ist die Erfahrung vertraut, daß sie ihre kleinen und großen Lebensziele nicht erreichen. Und eine objektive Würdigung der „Chancen“ könnte sie leicht lehren, daß die ihnen gebotenen Gelegenheiten nur der Weg sind, sie den Zwecken der Klassengesellschaft und ihrer öffentlichen Gewalt dienstbar zu machen. Diese Betrachtung der Dinge als Mittel des persönlichen Fortkommens und das regelmäßigen Versagen dieser Mittel ist ein Widerspruch, mit dem es sich schlecht leben läßt und der von daher bewältigt sein will. Das wäre nun die passende Gelegenheit, den Schluß zu ziehen, daß die vorgestellten Mittel nicht die ihren sind. Damit wäre ein Interessensgegensatz und auch die Frage auf dem Tisch, ob man nicht mit einer Gesellschaft, deren Zweck nicht in der Beförderung des Kapitalwachstums liegt, besser bedient wäre. Das geschieht aber bekanntlich nicht. Die Subjekte, die mit ihren Zwecken an den vorhandenen Chancen scheitern, werden zwar kritisch, aber nicht gegen die ihnen gesetzten Bedingungen, sondern gegen den Materialismus ihrer Mitmenschen und auch gegen ihren eigenen. Daß seine Interessen und Nöte bloß die seinen sind, will sich ein Mensch mit Moral jedenfalls nicht nachsagen lassen. Nicht die widrigen Bedingungen ihres Daseins stellen Moralisten so in Frage, sondern sich und alle anderen bei ihrem Umgang mit ihnen. Das Bedürfnis, das die Konstruktion dieses ideellen Kriteriums allen Treibens anleitet, ist nicht schwer auszumachen. Immerhin melden sich hier rechtschaffende Menschen zu Wort, die sich am Erlaubten und Verbotenen orientieren, sich an ihrem Erfolg im Leben stets im Rahmen der gültigen, gesellschaftlich gebotenen Mittel zu schaffen machen – und die bemerken, daß sie darüber in manchen Gegensatz zu ihren Zeitgenossen geraten. Das Ideal, das sie sich von den widrigen Abhängigkeiten zurechtlegen, ist das des allgemeinen Wohls, zu dem die gegensätzlichen, aber doch voneinander abhängigen Interessen etwas beizusteuern hätten. Die eigene Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Regeln von Staat und Markt erscheint als Verdienst, den man bei jedermann als Pflicht einklagen möchte. So verstehen sich moderne Menschen wider alle Erfahrung darauf, von einem positiven Verhältnis zwischen allen möglichen Anliegen auszugehen und dieses sich und anderen vorzurechnen, weil sie sich auf die realen Gegensätze, die sie zu spüren kriegen, einlassen wollen. Das moralische Individuum sieht sich so ausreichend munitioniert, um sich selbst und andere fertig zu machen: nicht der Grund und Inhalt der eigenen und fremden Vorhaben ist dann Gegenstand der Verhandlung, sondern ein ideeller Maßstab, an dem sich alles Treiben messen lassen muß und je nach Interessenslage blamieren oder bewähren soll, was durch ein entsprechendes (Un-)Werturteil bekannt gegeben wird. So verfallen Menschen und Interessen, denen man keine edlen Motive zubilligt, der Verachtung, einer ideellen Lynchjustiz, die im Rechtsstaat bloß nicht praktisch werden darf, es sei denn in Form der gerechten Empörung. Bei allem Antimaterialismus, den sie in ihrer Absage ans eigene und fremde Interesse praktizieren, bringen es moralische Leute so allerdings zu einem neuen Anspruch an die Gesellschaft, ihre Instanzen und ihre Mitglieder: Sie fordern Anerkennung – wenn schon nicht ihrer Interessen, dann doch um so mehr ihrer Moralität, mit der sie ihre Interessen verleugnen. Weil allerdings alle nach dieser kompensatorischen Genugtuung streben, sich in Sachen Tugend auszuzeichnen, reproduzieren verantwortungsbewußte Bürger einen zwischenmenschlichen Leistungsvergleich, wie ihn nicht einmal das Kapital betreibt. Hier findet der Kampf ums Selbstbewußtsein statt, von dem ja bekanntlich so manches abhängt: vom Torerfolg bis zum Orgasmus und von den Prüfungsnoten bis zur Berufkarriere. Wo dem Stolz auf sich selbst jedes positive Echo versagt bleibt und im Vergleichskampf Niederlagen zugefügt werden, da mag der Betroffene noch so sehr die Inkompetenz und Unwürdigkeit seiner Zeitgenossen verachten, die sein bestes Stück nicht zu würdigen verstehen – es bleibt der Zweifel an der eigenen Persönlichkeit, der als prinzipielles Unwerturteil auch schon mal mit dem Griff zum Strick exekutiert wird. Im Rahmen des hier angekündigten Tagesseminars soll einerseits das Funktionieren von moralischem Individuum und Öffentlichkeit erklärt und andererseits der Frage nachgegangen werden, ob Linke sich am moralischen Wettstreit mit einem dazu geeigneten alternativem Wertehimmel beteiligen oder vielleicht doch lieber versuchen sollten, den Nachweis zu führen, daß die ganze Gesellschaft Zwecken gehorcht, die nicht die ihren sind – und von daher vielleicht besser beseitigt gehört.