Gruppe 3

„Weiter-So“ geht nicht mehr?!

Neues vom bürgerlichen Staat

OrtPlatz d. Göttinger Sieben 3, OEC Ü7
Zeit28.10.1998 19:00-22:00h
Wenn es darum geht, zu erklären, welche Rolle der Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft spielt, kommen Leute auf die unterschiedlichsten Antworten. Aber fast alle sind sie sich in einem einig, egal ob sie nun ein positives oder negatives Urteil über seine momentane Befindlichkeit fällen: Der Staat ist notwendig und eigentlich schon ein taugliches Mittel zur irgendwie gearteten Beglückung seines Staatsvolks. Das meint auch der Spiegel: „Weiter-So geht nicht mehr: Das Steuersysem bedarf der Generalüberholung, die Ausländerpolitik muß neu konzipiert werden, das deutsche Rentensystem hat keine Zukunft. Die Politiker scheuen sich, dem Wähler die Wahrheit zu sagen.“ Was dran ist an so einer Kritik am Staat, soll nun im Folgenden an eben diesem Spiegel-Artikel gezeigt werden. Der Staat kollabiert! – zumindest wenn die Politiker nicht von ihren „wirklichkeitsverweigerndem Abwehrbündnis gegen Zukunft“ abstand nehmen. So leitet der Spiegel seine Aritkelserie Projekt Deutschland 2000 ein – ein Projekt zur Rettung des Staats, der Nation und des Standorts BRD. In vielen Abteilungen des Staatsapparats steckt der Wurm drin, sagt der Spiegel und benennt dann auch selbige. Ja, ein Skandal nach dem anderen wird ausgemacht; so entwickelt sich dann nach und nach ein Bild von dem, was SpiegelschreiberInnen für notwendige Zielsetzungen staatlicher Machtausübungen halten und was sie als „perverse“ Mutationen dieser Machtausübung ausmachen. Gleich in der ersten Folge (Der Spiegel 30/1998) wird ein wirkliches „Tabu-Thema“ angesprochen: Der Sozialstaat, bei dem irgendwie „die Logik des kalten Buffets“ herrscht. „Angefangen hat es mit einzelnen, die krank wurden oder erwerbsunfähig und damit auf staatlichen Beistand zwingend angewiesen waren […] Mittlerweile ist jeder an den Tropf der Sozialadministration gelegt, von dem auch nur vermutet werden kann, daß er unter einem amtlich heilbaren Nachteil leidet.“ Es stimmt schon, daß hier Leute erwerbsunfähig werden und dann kein Auskommen mehr haben. Die sind dann auf den Staat in seiner Funktion als Sozialstaat notwendiger Weise verwiesen, wenn sie nicht vollkommen vor die Hunde gehen wollen. Nur, da sollte auch die Frage aufkommen, warum Menschen, wenn sie erwerbsunfähig werden, des Staats bedürfen, um weiterhin noch ein wenig vor sich hin existieren zu können. Aber mit der Erwerbsfähigkeit schlechthin ist es hier nicht getan: Mensch muß schon in »Lohn und Brot« stehen, um ein Auskommen zu haben. Er muß das zweifelhafte Glück habe, daß seine Arbeitskraft für jemanden rentabel ist, denn, wie der Spiegel kongenial konstatiert, es ist irgendwie im Kapitalismus mit der „freien Verfügbarkeit der Produktionsmittel“ nicht weit her. Ja, das stimmt. Das Gros der BRD-Bevölkerung hat kein Eigentum an Produktionsmitteln und muß eben deshalb das einzige Mittel, was es besitzt, vermarkten – seine Arbeitskraft. Doch das Fehlen der frei verfügbaren Produktionsmittel findet der Spiegel auch weiter nicht interessant, denn er zieht keinen Schluß daraus, außer dem einen, daß dann „doch wenigstens das eigene Einkommen wieder frei verfügbar sein“ sollte, also nicht mehr durch den Staat in dem Maß wie jetzt beschnitten. Ein merkwürdiger Schluß. Denn schon das Rechtsinstitut Privateigentum sorgt doch per Gewalt von staatswegen dafür, daß es nichts wird mit der freien Verfügbarkeit der Produktionsmittel. Da mutet doch der Wunsch komisch an, daß mensch von dem, der einen dran hindert, die Produktionsmittel nicht als Geschäftsgrundlage sondern zur Bedürfnisbefriedigung zu nutzen, dann erwarten kann, daß der Staat wenigstens „mehr Freiheit wagen“ könnte, „denn nur der Verzicht auf ein Stück kollektiver Absicherung schafft Spielräume für die individuelle Lebensplanung.“ Wer so argumentiert, hat dann auch konsequenter Weise zwei alternative Forderungen parat: Als guter Staatsbürger fordert er, »Arbeit muß billiger werden!« – wie es im Wahlkampf von überall erschallt und eigentlich nur deutsche Arbeit meint – denn dies führt ja bekanntermaßen zu einer besseren nationalen Beschäftigungslage, so daß dann auch die erhobenen Steuern nicht mehr so hoch ausfallen müssen, weil dann ja kaum jemand unverwertet in den blühenden Landschaften rumhocken muß, so daß der Staat sich nicht mehr so sehr um ihn zu kümmern braucht. Also haben irgendwie alle mehr davon. So eine Forderung ist eine Parteinahme für das eben ausgemachte Übel, das Privateigentum, und macht sich zum Advokaten der herrschenden Verhältnisse, denn sie affirmiert das Privateigentum als Voraussetzung und versucht, die daraus resultierenden Widersprüche auch noch positiv zu wenden: Nur wenn die Nationalökonomie in der internationalen Konkurrenz besser abschneidet, ist eine bessere Partizipation am nationalen Reichtum in Aussicht gestellt. So wird auf ein Gemeinsames der widerstrebenden Interessen geschlossen, das Gemeinwohl, das gerade in diesen (gegensätzlichen!) Interessen bestehen soll, weil sie von einander abhängig sind und schon von daher nur gemeinsam existieren können. Die eigene Bereitschaft zur Subsumierung unter die Prinzipien von Markt und Staat wird zur Leistung, die als Schuldtitel gegen jedeN gelten soll. Das heißt: Erst die Nation, dann vielleicht das Vergnügen! – und: Arbeitslosigkeit exportieren! Als praktischer Bürger fordert er, »Der Staat muß schlanker werden!« und meint damit, daß der Staat es reichlich übertreibt mit der Sorge um sein Staatsvolk – und das alles von seinen Steuergeldern. Die Bedürftigen werden schon lange nicht mehr nur gefördert. Ihnen wird die Eigeninitiative madig gemacht, sie werden durch die ständigen und mannigfachen Zuwendungen zur Unselbständigkeit erzogen – auch das wieder auf Kosten der werktätigen und damit Steuern zahlenden Bevölkerung. Für den praktischen Bürger zählt nur sein Sonderinteresse, sein »pursuit of happiness«, und er wird deshalb gerne vom Staatsbürger als Egoist vorgeführt. Er hat sich in den Verhältnissen passabel eingerichtet und will nun nicht einsehen, warum er auf seinem Rücken den für ihn überflüssigen Teil des Staatsapparat mit herumschleppen soll, der in seinem Kosten-Nuzen-Kalkül als negativer Posten erscheint, ohne den es sich viel besser leben ließe. Aber was beiden Positionen gemeinsam ist, ist der affirmative Bezug auf die Verhältnisse und die grundsätzliche Parteilichkeit für eine starke Nation als Grundlage jeden Handelns. Die SpiegelschreiberInnen nehmen nun an, daß, wenn Leute an den Sozialstaat geraten, dieser sich die „Selbstverpflichtung“ auferlegt hat, sie „mittels Umverteilung am Wohlstand gleichmäßig teilhaben zu lassen“ und dementsprechend handelt. Ob der Staat sich solch eine „Selbstverpflichtung“ auferlegt hat, ist wohl mehr als fraglich, denn warum sollte der Staat erst eine Wirtschaftsweise einrichten, die offensichtlich nicht dazu geeignet ist, jeden am Reichtum der Gesellschaft partizipieren zu lassen und dann einen Sozialstaat installieren, der genau dies von ihm eingerichtete Verhältnis nivelliert. Marktwirtschaft ist eben die profitable Anwendung des Eigentums in Konkurrenz zu allen anderen, und damit notwendig einhergehend ist die Schädigung der Konkurrenten gültiges Prinzip. Was der Staat seinen Untertanen gewährt und worauf er sie verpflichtet, ist die Freiheit, sich entsprechend der ökonomischen Mittel, die sie haben (oder eben auch nicht), ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu sichern – und das unter Respektierung anderer, die dasselbe auf ihre Kosten, gegen sie tun. Der Staat regelt somit gewaltsam die Konkurrenz, damit sie überhaupt stattfinden kann. So produziert er einen Wirtschaftsweise in der die Abhängigkeit der Individuen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums so organisiert ist, daß sich die Untertanen beim Verfolgen ihrer Interessen wechselseitig die Teilhabe an eben diesem Reichtum bestreiten. Jeder muß eben mit seinen Mitteln in Abhängigkeit von den anderen, die die ihren einsetzen, zurechtkommen. Das Privateigentum, also die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft, von dem andere in ihrer Existenz abhängig sind, weil sie davon Gebrauch machen müssen, ist deshalb die Grundlage des individuellen Nutzens und damit einhergehend auch Schadens. Beim Privateigentum spielen hier nicht die »einfachen« Gebrauchsgüter wie Bier und Fernseher eine Rolle, obwohl es schon auf den Bereich des individuellen Konsums seine Wirkung hat, sondern die Abhängigkeit von fremden Eigentum spielt sich auf dem Feld der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums ab. Denn mit der ausschließlichen Verfügung über die Produktionsmittel und damit auch über die Produkte erhält der Reichtum die Gewalt, anderen die Existenz zu bestreiten. So müssen dann die Lohnabhängigen sich selbst als Mittel fremden Eigentums erhalten und dessen Wachstum liegt dem Staat am Herzen. So, wie die Leistungen für die Infrastruktur wichtige Bedingungen der Kapitalakkumulation sicherstellen und die Umweltschutzgesetzgebung auf bestimmte Verfahrensregeln pocht, ist eben auch der Sozialstaat eine notwendige staatliche Einmischung. Die tägliche Plagerei der Erwerbstätigen für den Betrieb, die der Kapitalist so kostengünstig wie möglich gestalten möchte, führt zu kontinuierlich beigebrachten gesundheitlichen Schädigungen. Deren Behebung fällt aber nicht in den Zuständigkeitsbereich des Anwenders der Ware Arbeitskraft. Daß alle Lohnabhängigen Teile ihres Lohns für umfangreiche gesundheitliche Vorsorge und Reparatur abzweigen können und wollen, ist ebenso nicht zu erwarten. Sollten sie zudem einmal nicht das Glück haben, arbeiten gehen zu können (mangels Arbeitsplatz), stellt sich das Problem ihrer Durchfütterung und des Erhalts ihrer grundsätzlichen Verwendbarkeit. Weil sich eine prosperierende Nationalökonomie nicht auf extrem Mitgenommene aufbauen läßt, hat der Staat ein Interesse, die Bevölkerung einigermaßen in Schuß und damit dienstfähig zu halten. Das muß gegen die Profiteure der gesundheitlichen Ruinierung durchgesetzt und ihnen allen gleichermaßen vorgeschrieben werden. Zu diesem Zweck installiert mensch ein Gesundheitswesen, verschiedene (Pflicht-) Versicherungen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie Arbeitsschutzbestimmungen, die gerade soweit reichen, daß sie nicht zu geschäftsschädigend wirken. Die Existenz solcher Einrichtungen ist ein Beweis dafür, daß das Lohnarbeiterdasein sich nicht durch Gesundheit und Wohlergehen bezahlt macht, und dafür, daß von staatlicher Seite bestimmte Regelungen des Umgangs mit den Resultaten getroffen werden müssen. Durch die Form der Zwangsversicherung sind die „Arbeitnehmer“ gezwungen, für die Versicherungsbeiträge regelmäßig einen Teil ihres Lohn aufzuwenden, um im Fall der Erwerbsunfähigkeit oder wenn sie das Rentenalter erreichen etwas „auf der hohen Kante“ zu haben. Die „Arbeitgeber“ haben ebenfalls ihren Teil beizutragen. Ihrem Interesse an leistungsfähigen Malochern wird durch die Sozialmaßnahmen ja auch genüge getan. Entsprechend falsch ist dann auch die Annahme der SpiegelschreiberInnen, daß der Sozialstaat „mittlerweile“ den Zweck verfolgt, jedem seinen „amtlich heilbaren Nachteil“ zu kurieren, also Gleichmacherei zu betreiben, denn auch hier gilt das schon oben angeführte: Warum erst eine Ökonomie schaffen, die den Schaden vieler Leute garantiert, um dann staatlicherseits wieder diesen Schaden auszugleichen, ja, sogar die Wohlhabenderen, die ihren Reichtum eben aus dieser Schädigung ziehen, zwecks gleichmäßiger Umverteilung mehr zu schädigen als ihr Gewinn aus der Schädigung anderer gewesen ist. Abstrus. Doch der Sachverstand der AutorInnen des Spiegel-Artikels treibt noch ganz andere Blüten. Sie stellen sich, obwohl sie doch gerade herausbekommen haben wollen, daß der Sozialstaat eigentlich nichts besseres zu tun hat, als den Reichtum besser zu verteilen, folgende Frage: „Wieso werden die Bergleute mit 130.000 Mark pro Jahr und Kumpel subventioniert, derweil Gaststättenpersonal oder Putzfrauen ohne solche Alimente auskommen?“ – Der Sozialstaat wird seinem Begriff, wie der Spiegel ihn bestimmt, irgendwie nicht so ganz gerecht, oder? Vielleicht ist der Begriff vom Sozialstaat aber einfach auch nur ein falscher. Da wäre ja der Beruf Bergmann bzw. Bergfrau der Beruf, denn jedeR BergarbeiterIn würde allein schon 10.833,33 DM im Monat vom Staat kassieren. Aber irgendwie entspricht diese Rechnung keineswegs der Realität. Was da subventioniert wird, ist der Betrieb; das Geld fließt nicht in die Taschen der einzelnen Bergleute. Es käme den Staat wahrscheinlich auch bedeutend billiger, wenn er die Kumpel in die Arbeitslosigkeit schicken würde, anstatt die Arbeitsplätze zu subventionieren. Aber soviel stimmt daran dennoch: Dem Staat ist es ein nicht unbedeutendes Anliegen, daß es eine nationale Schwerindustrie gibt. Nur versteht er darunter etwas anderes als die, die davon leben… Wie sieht's denn nun aus mit der Schwerindustrie? Historisch stellt sich die Sache mit dem Bergbau schon ein wenig anders dar. Kohle braucht mensch neben der Energieproduktion, um Stahl zu produzieren. An Gebrauchsgütern aus Stahl hatte und hat nicht bloß die Geschäftswelt, sondern vor allem das Militär einen uferlosen Bedarf. So sicherte die staatliche Kaufkraft dem Stahlgeschäft einen seiner Märkte und dem Kapital an der Ruhr vor den Weltkriegen seinen Aufschwung. Hinterher, nach der Niederlage, wollte das erste Mal die französische Republik die einschlägigen deutschen Produktionsmittel demontieren, beim zweiten Mal die britische Besatzungsmacht sie sich aneignen. Doch daraus wurde nichts. Das deutsche Nationalinteresse an einer eigenständigen Produktion der industriellen „Rohstoffe“ Energie – aus heimischer Kohle – und Stahl bekam in beiden Fällen recht – von den Amerikanern. Der Wille der westlichen Siegermächte des 2. Weltkrieges, die strategische Schlüsselindustrie des zerschlagenen deutschen Reichs dauerhaft ihrer Kontrolle zu unterstellen, schuf 1951 eine supranationale Institution, die das politische Regime gleich über das gesamte Kohle- und Stahlgeschäft der beteiligten Nationen übernehmen sollte: die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS oder „Montanunion“). Eine Freihandelszone für diese beiden Artikel wurde geschaffen, in der das Geschäft – vor allem mit dem gefragten Werkstoff Stahl – in ungeahntem Ausmaß expandierte. Im Sommer 1987 gab es eine »Kohlekrise«, weil ein paar prominente Zechen zur Schließung anstanden. Von dieser »Krise« sprach nach kürzester Zeit keiner mehr, obwohl die Sache keineswegs vorbei war: Für die kommenden Jahre waren weitere Fördereinschränkungen zwischen 15 und 30% vorgesehen. Eine solche Entscheidung lag und liegt beim Staat – wie es mensch auch gerade wieder im »Schwarzbuch des Steuerzahlerbundes« vom September 1998 wiederfinden kann – der einerseits noch immer eine funktionsfähige einheimische Kohleförderung erhalten will, andererseits deren betriebswirtschaftlich kalkulierten Preise keinem seiner kapitalistischen Kohlekäufer zumuten will, weil Importkohle und andere Energieträger weltweit viel billiger zu haben sind – dies übrigens schon seit Ende der 50er Jahre; damals hat das »Zechensterben« denn auch angefangen, für das die engagierten Kapitalisten mit Gründung der Ruhrkohle AG staatlich entschädigt worden sind. Seinen marktwirtschaftlichen Zielkonflikt hat der bundesdeutsche Staat einerseits mit dem »Kohlepfennig«, einem Zuschlag zum Stromabgabepreis, mit dem die Stromerzeugungsunternehmen ihre rechnerischen Mehrkosten für den Einsatz deutscher Steinkohle anstelle anderer Brennstoffe vergütet bekommen – bekanntlich steigt diese Entschädigung bei sinkenden Weltmarktpreisen für Öl und Kohle, ohne das deswegen der Strompreis für den Haushalt zu sinken braucht. Andererseits sieht diese Lösung dauernd den allmählichen Wegfall insbesondere solcher Subventionen vor, die direkt den Staatshaushalt belasten. Diese »Doppelstrategie« treibt die Ruhrkohle AG gleichzeitig zur Stillegung und zu höchst erfolgreichen Produktivitätssteigerungen; für die Förderung von 151 Mio. Tonnen Steinkohle wurden 1956 noch 610.000 »ArbeitnehmerInnen« bezahlt, 30 Jahre später schafft ein Viertel der Belegschaft die Hälfte der damaligen Förderung. Nach betriebswirtschaftlicher Logik, auf die auch die Ruhrkohle AG festgelegt ist, werden durch diese Erfolge auch um so mehr Zechenschließungen fällig – die alles andere beweisen, als die krisenhafte Rückständigkeit dieses Industriezweiges. Gleichzeitig ist das auch die Antwort darauf, warum der Staat lieber den Kohlebergbau subventioniert, als Putzfrauen und Gaststättenpersonal; für die Förderung der Schwerindustrie hat der Staat eben ganz andere Gründe als die sozialstaatlichen. Aber damit nicht genug, der Spiegel macht noch mehr skandalöse Machenschaften des Sozialstaats aus: Der deutsche Sozialstaat begnügt sich längst nicht mehr damit, „nur materielle Benachteiligungen auszugleichen. Auch für immaterielle aufgrund von Talent, Geschlecht oder sexueller Präferenz verspricht er Kompensation, und seien sie nur vermutet. […] In solchen Überdrehungen blitzt besonders deutlich auf, was den Opferstatus so erstrebenswert macht: Wer ihn erst einmal für sich reklamiert hat, der hat eine Freifahrkarte für das soziale Netz gezogen, mit beinahe unbegrenzter Laufzeit. […] Keine Fähigkeit eröffnet so verläßlich Zugang zu staatlichen Näpfen wie die, sich öffentlich in die Rolle des Opfers hineinzustehlen. Nichts sichert die eigenen Pfründe gewinnbringender als der Schulterschluß mit den Entrechteten.“ Da darf mensch sich auch nicht wundern, wenn es bald heißt: „Vom Sozialhilfeempfänger zum Millionär – the german dream!“ – Und Menschen, die auf dem besten Weg dazu sind, ja fast schon zum Club der Millionäre zählen, weil sie ihre „Zähne in die Zitzen des Wohlfahrtsstaats schlagen“, wissen die Gesundung des Sozialstaats zu einer Instanz der Gerechtigkeit zu verhindern: „Es sind die Lauten und Vorlauten, die Cleveren und Unverschämten, die zu den Hauptnutznießern des Sozialsystems gehören. Denn vor nichts haben Politiker mehr Respekt als vor einflußreichen Wählergruppen. Und weil Einfluß meist mit einem ordentlichen Einkommen einhergeht, trauen sie sich nicht mehr, denjenigen, die nicht arm sind, dies auch zu sagen.“ Der Spiegel kennt sie genau, all diese Gruppen und Interessenverbände, „die sich armrechnen und immer neue Vergünstigungen erjammern: Die Alten, die für kostenlose Seniorenkreuzfahrten und Freizeitbetreuung auf Krankenschein streiten. Die Kurdirektoren, die den dritten Jahresurlaub in Bad Wildung oder Bad Tölz zum Menschenrecht proklamieren. Die Beamten, die für jede Sonderzulage den passenden Härtefall nennen können.“ Vielen politisch Verantwortlichen soll es mittlerweile dämmern, daß sie da Ansprüche gezüchtet haben, die ihren Handlungsspielraum einschnüren. Ihr perfektionierter Sozialstaat lenkt den einzelnen von „seiner Verantwortung für das Gemeinwohl“ ab und greift damit die „»Nervenstränge der Demokratie«“ an. All das liegt an einer „»Rationalitätenfalle«“: „»Zwar weiß jeder, daß Mehrverbrauch höhere Kosten für alle verursacht, dennoch ist es für den einzelnen rational, das zu tun, was gleichzeitig irrational ist.«“ Dieses »Problem« ist so falsch wie alt. Es besteht immer nur für den, der sich die Sorgen und Nöte seines Staates und das vernachlässigte Gemeinwohl zum Anliegen macht, also das nötige nationale Bewußtsein, das er als Maßstab an alle anderen »Volksgenossen« anlegt, für den staatlichen Erfolg, der dann wiederum das erfolgreiche Leben seiner Untertanen garantieren soll, im »Volkskörper« vermißt. Nur von diesem Standpunkt aus kann etwas irrational erscheinen, was eigentlich rational ist. Dies »Problem« kannte auch schon der Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau. In seinem Werk »Der Gesellschaftsvertrag« jammert er auch die ganze Zeit darüber, daß den Leuten der Staat zu wenig am Herzen läge: „In der Tat kann jeder einzelne als Mensch einen besonderen Willen haben, der dem Gemeinwillen, den er als Staatsbürger hat, zuwiderläuft oder mit dem er doch nicht überall in Einklang steht. […] Dem einzelnen sagt vom ganzen Regierungsplan nur das zu, was sich auf sein Sonderinteresse bezieht. Er sieht nur schwer ein, welche Vorteile er aus den ständigen Entbehrungen ziehen kann, die ihm gute Gesetze auferlegen.“ Rousseau wußte auch eine brillante Lösung für das Problem mit dem »Citoyen« und dem »Bourgeois«: „Für den Staat ist es allerdings von größter Wichtigkeit, daß sich jeder Staatsbürger zu einer Religion bekennt, die ihn seine Pflichten lieb gewinnen läßt. Die Glaubenssätze dieser Religion gehen dagegen den Staat und dessen Glieder nur insofern etwas an, als die Moral und die Pflicht betreffen, die derjenige, der sich zu ihnen bekennt, gegenüber seinem Nächsten zu erfüllen hat.“ Auch Adolf Hitler hat, wie es sich eben für einen guten Nationalisten gehört, dieser Gedanke mit dem Allgemeinwohl sehr gut gefallen: „Pflichterfüllung; das heißt, nicht sich selbst genügen, sondern der Allgemeinheit dienen. Die grundsätzliche Gesinnung, aus der ein solches Handeln erwächst, nennen wir – zum Unterschied vom Egoismus, vom Eigennutz – Idealismus.“ Mit einem solchen Begriff vom Sozialstaat und dem Staat im allgemeinen, kann der Spiegel dann auch nur zu folgendem Ergebnis kommen: „Nur der Sozialstaat, der sich zurücknimmt und sich Selbstbeschränkungen auferlegt, ist auf Dauer sozial. Über das Wieviel des Rückzugs, was Wo und das Wann muß geredet werden, laut und kontrovers, wie es sich für eine Demokratie gehört. Aber: Es muß geredet werden.“ Finden wir auch! – Aber nicht für einen besseren Sozialstaat, sondern über und gegen den Staat, denn wer braucht den schon eine Herrschaft über sich? Und daß demokratische Herrschaft und Herrschaft des Rechts deswegen schon so gut wie keine Herrschaft wären und vor allem mensch selbst als wahlberechtigter Bürger alles andere als ein Untertan, das kann nur glauben, wer sich von vornherein mehr um das Gelingen der Politik, um ihre Hindernisse, Schwierigkeiten und Grenzen kümmert, als um das Gelingen des eigenen Lebens und um die Beschränkungen seiner Bedürfnisse. Verläßt mensch einmal den Standpunkt der Staatstreue, wie sie u.a. von den SpiegelschreiberInnen vertreten wird, die die eigene Abhängigkeit von politischen Entscheidungen in eine Parteinahme für deren Erfolg, den eigenen Mißerfolg in Beschwerden über eine verfehlte Politik übersetzt, dann nehmen sich so »schöne« Verheißungen wie Freiheit & Gleichheit, »Eigentum verpflichtet« und »unveräußerliche Würde«, Recht und Ordnung, »soziales Netz«, und »Schutz der Familie« schon gar nicht mehr so erfreulich aus – sie erweisen sich vielmehr als die Ankündigung und Verlaufsformen der Gewalt, ohne die die Konkurrenz der Klassen und die Verwaltung von Armut und Reichtum, wie sie sich daraus ergeben, eben nicht zu haben ist. Und das nicht erst dort, wo der Fiskus seine Steuerbürger für das Wirken der Staatsgewalt zur Kasse bittet und die Erfordernisse des Wirtschaftswachstums dem Staatshaushalt seine Bedingungen setzen. Das Recht auf die freie Wahl einer Obrigkeit und zur öffentlichen Beschwerde über ihr »Versagen« vollendet deswegen auch nicht das Lebensglück des Bürgers, sondern die Freiheit seiner Staatsgewalt.