Gruppe 3

Nationalismus

Vom Zusammenwirken praktischer Politik mit der Einstellung nützlicher Idioten

OrtArbeit und Leben, Lange Geismar Str. 72, Göttingen
Zeit10.10.1998 ab 12:00h
Am 3. Oktober jähren sich wieder die Staatsfeierlichkeiten der „nationalen Einheit“. Aber es gibt Streit in der Nation; ein Streit, der die Nation in jeder Zeitung bewegt; ein Streit um das Hymnen-Potpourri, das auf diesen Feierlichkeiten zu hören sein werden soll. Der bayrische Landesvater Stoiber will nicht teilnehmen, weil doch tatsächlich ca. 6 Takte der ehemaligen DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ in diesem Potpourri vorkommen sollen: Es könne nicht angehen, daß auf den SED Unrechtsstaat posthum noch positiv Bezug genommen wird, als historisch bedeutsamen Teil der deutschen Nation. Die DDR-Geschichte sei eben eine der Bespitzelung, Unterdrückung und Mißwirtschaft. Historisch zähle da allein, daß die Deutschen in Ost wie West gegen den Stasi- Staat vierzig Jahre lang gekämpft hätten und daß dieser die Ost-Menschen „vierzig Jahre nur belogen und betrogen“ habe. Er ist untergegangen und ausgelöscht und dient bestenfalls noch als Negativ-Beispiel nationalstaatlicher Politik in jeder Hinsicht und als Altlast, aus der nun immer wieder nationale Probleme erwachsen. Aber trotz dieses Wahlkampf-Scharmützels besteht doch in einem bei allen Einigkeit, auch wenn sie sich diese Parteinahme immer gegenseitig absprechen: Vom großen Konsens in der nationalen Sache, vom Vers „Deutschland einig Vaterland“, mag sich keine politische Kraft ausschließen – und im Westen, der schon länger frei ist, ist Politik schon immer für die gesamtdeutsche Großnation gemacht worden. Der politische Standpunkt, der sich so vollständig im Namen der jeweiligen Nation zusammenfaßt, ist in einer Hinsicht eine klare und eindeutige Sache: Er ist, wenn auch noch kein detailliertes Programm, so doch die oberste Richtlinie für die Ausübung politischer Herrschaft. Die Nation für das erste und wichtigste Anliegen halten; keine Unterscheidung auf der Welt so ernst nehmen wie die zwischen In- und Ausländern und zwischen dem Gelände innerhalb und dem außerhalb der nationalen Grenzpfosten; bei jeder wirtschaftlichen Tätigkeit nicht einfach auf den Profit, sondern auf dessen Nationalität achten, sowie auf den nationalen Ursprung und Zielort der ge- und verkauften Waren; über alle privat-menschlichen Belange – vom Kindersegen bis zum Rentnerhaushalt, von der Arbeitswelt bis zum Bücherlesen, von der Umweltvergiftung bis zur Jugendkriminalität – national Buch führen und das für die einzig sachgerechte Betrachtungsweise halten; Sport und Kulturleben, Dichtung und Wissenschaft unter den Gesichtspunkt eines immerwährenden Leistungsvergleichs der Nationen stellen: Alles das ist Staatsinteresse, also auch der einzig angemessene praktische Standpunkt und die passende Weltsicht derer, die die Staatsgewalt ausüben. Denn die Staatsgewalt ist national: Sie ist die hoheitliche Macht über ein Stück Erdoberfläche und eine Anzahl Einwohner; sie schreibt allen Betätigungen ihrer Bürger Grenzen des Erlaubten vor; sie hat ihren Daseinszweck darin, sich als diese Gewalt zu stärken; sie verfolgt diesen Daseinszweck in Konkurrenz zu den anderen Staatsgewalten; und sie benutzt dafür ihre Bürger und die Erträge der von denen geleisteten Arbeit als ihre Machtmittel. Das ist sie, die nationale Sache, um die es jeder Staatsmacht geht. Sie erfolgreich durchsetzen zu wollen, das ist Nationalismus von oben – ein sehr praktischer, erfolgsorientierter Standpunkt, der zahlreiche Arbeitsplätze schafft, nämlich für Machthaber und Staatsdiener. Daß die Nation den maßgeblichen Bezugspunkt aller anerkannten gesellschaftlichen Interessen hergeben sollte und den einzig wahren Gesichtspunkt für die richtige theoretische Sortierung des Weltgeschehens, diesen Imperativ gibt es freilich noch in einer ganz anderen Weise, nämlich als Standpunkt der regierten Bürger. Und dieser Nationalismus von unten gibt Rätsel auf. Denn was ist daran praktisch, lebenstüchtig und erfolgsorientiert, wenn ein normaler Landesbewohner für nationale Interessen parteilich ist und in ihrem Namen und für sie fordernd auftritt? Was hat er in seinem praktischen Alltag mit nationalen Bilanzen zu tun – außer so, daß er in der einen oder anderen Summe als verschwindend kleiner Posten vorkommt –, und wo hilft ihm die Scheidung der Menschheit in In- und Ausländer bei der Bewältigung seines Lebens? Was hat ein Inländer richtig erkannt, wenn er nationale Gedanken denkt, also vom mutmaßlichen Gewinn oder Schaden „seiner“ Nation her urteilt? Wer würdigt seine Theorien, wer richtet sich danach, wem könnten sie überhaupt nützen und wobei? Tatsächlich weiß ja sogar irgendwo jeder, daß die Leistungen, die der „Alltag“ einem normalen Gesellschaftsmitglied abverlangt, in keiner Hinsicht anders oder geringer werden, wenn er sich zum Standpunkt des nationalen Überblicks aufschwingt. Aus eigenem Antrieb und mitten im Straßenverkehr oder am Fließband nach „Deutschland!“ zu rufen und schwarz-rot-goldene Fahnen zu schwingen, ist weder üblich noch beliebt; jeder weiß, daß das nahe an der Verrücktheit wäre. Und doch ist gleichzeitig jeder Bürger bereit, seine privaten Sorgen mit irgendeiner vom nationalen Gesichtspunkt aus definierten Problemlage zu identifizieren und umgekehrt nationale Unterscheidungen, z.B. zwischen Inund Ausländern, nationale Interessen, z.B. an einer positiven Handelsbilanz, nationale Fragen, z.B. nach einem Grenzverlauf, und anderes mehr so aufzufassen, als wären das die praktischen Angelegenheiten, die ihn in seinem Privatleben wirklich umtreiben. Ansonsten ganz normale Bürger sind dazu fähig, aus gegebenem Anlaß – meist einem solchen symbolischer Natur – ihre Parteilichkeit für die nationale Sache als Gefühl zu empfinden; das gilt sogar als normal und ist es offenbar auch. Und wenn es ans Nachdenken über Politik geht, dann ist so gut wie nie ein Urteil zu haben, das nicht von dem Ethos beseelt wäre, eine nationale Problemlage erfassen und lösen zu helfen. Was spricht für soviel prinzipielle Parteilichkeit? Welchen guten Grund kann der Nationalismus der regierten Mannschaft für sich vorweisen? Eins steht jedenfalls fest: Die wirklichen politischen Vorhaben und Unternehmungen der Nation fallen deswegen noch lange nicht in die Entscheidungskompetenz der guten Patrioten. Die wirkliche nationale Sache bleibt die Angelegenheit der professionellen Machthaber, die sie definieren und für ihre Durchsetzung einstehen. Über das wirkliche und wirksame Programm, das mit dem Namen der Nation aufgestellt ist, über die wirkliche Politik, die „Deutschland!“ heißt, ist alles gesagt, wenn klargestellt ist, um was die Führer der Nation sich kümmern und wie sie das tun. Über den Nationalismus des regierten Volkes steht damit umgekehrt fest: Er ist eine durch und durch widersprüchliche Angelegenheit. Denn er ist die prinzipielle Parteilichkeit für nationale Zwecke, die über die Leute beschlossen werden; eine Parteilichkeit, die sich gar nicht aus der Prüfung eines bestimmten Anliegens ergibt, sondern von den Machthabern ihren tatsächlichen Inhalt verpaßt kriegt – mit dem der patriotische Bürger dann sogar wieder unzufrieden sein mag und darf. Es handelt sich um eine Parteilichkeit ohne Hand und Fuß, ohne Sinn und Verstand, die regelmäßig schief liegt, wenn sie sich mit einer bestimmten Erwartung, womöglich einem materiellen Anspruch verbindet. Voll auf ihre Kosten kommt sie allenfalls in der luftigen Welt der Symbole, wo die Parteilichkeit selber zum Genuß gerät – materiell nützlich ist sie ausschließlich für die praktizierenden Nationalisten an der Macht, die ihr einen Freibrief für ihr Regierungsgeschäft entnehmen.