Peter Decker

Vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“

Anlässlich der Massenarbeitslosigkeit melden sich Soziologen und Philosophen zu Wort

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Die Arbeitslosigkeit ist „das gesellschaftliche Problem Nummer 1“, ihre Bekämpfung genießt „höchste Priorität“. Darüber sind sich alle maßgeblichen Standpunkte in der Gesellschaft so sehr einig, dass sie ein „Bündnis für Arbeit“ gegründet haben. Weniger klar ist schon, wer das Problem Arbeitslosigkeit eigentlich hat und worin es besteht.

Das banale Faktum

Da wären zunächst einmal die Arbeitslosen. Sie haben ein Problem. Das besteht aber nicht darin, daß sie nicht arbeiten - mit dem süßen Nichtstun kommen andere auch ganz gut zurecht. Die echten Arbeitslosen haben kein Geld, weil sie an das Geld, das man nun einmal zum Leben braucht in der Marktwirtschaft, nur dadurch herankommen, daß sie einen Job haben. Ihr Problem ist Armut - und das haben wirklich nur sie. Um ihr Leben und ihren Lebensunterhalt geht es in dieser Wirtschaft eben nicht. Die Arbeit, auf deren Verdienst sie angewiesen sind, wird nicht für ihren Lebensunterhalt sondern für den Gewinn des Unternehmers veranstaltet; deswegen wird die für sie notwendige Arbeit unterbunden, sobald sie für den Gewinn nicht mehr gebraucht wird.

Da ist zweitens „die Wirtschaft“. Ihr Bekenntnis zum „Problem Arbeitslosigkeit“ ist eine offene Lüge, mit der sie ihren Diener vor der Ideologie der Gemeinnützigkeit ihrer Profitmacherei macht. Tatsächlich leidet die Wirtschaft nicht an der Arbeitslosigkeit, sondern schafft sie durch ihre Rationalisierungen. Die Massen, die sie auf die Straße wirft, stören die Wirtschaft nicht, sondern nützen ihr; denn die vielen Bewerber drücken auf den Lohn derer, die beschäftigt werden. Dennoch beteiligt sich auch die Unternehmerschaft am „Bündnis für Arbeit“, weil ihr der politische Wunsch nach mehr Arbeitsplätzen Gelegenheit gibt, der Bedingung Anerkennung zu verschaffen, unter der sie allenfalls mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stellen würde: Billiger müsste die Arbeit zu haben sein, dann wäre sie sicher rentabler und eventuell würde sie sogar vermehrt angewendet. Lohnhöhe, Lohnnebenkosten, Arbeitszeitregelungen, Tarifbindung und Kündigungsschutz – alles, was die Arbeitenden von ihrer Arbeit haben, und alle Regelungen, die einmal zu ihrem Schutz durchgesetzt wurden, werden als Beschäftigungshindernisse angeklagt, die beseitigt werden müssen, wenn es in Deutschland „mehr Arbeit“ geben soll.

Das interessiert vor allem die dritte Partei im Spiel, den Staat. Denn erstens leiden seine Kassen, wenn wachsende Teile der Bevölkerung kein Geld verdienen, keine Steuern zahlen und, anstatt Beiträge in die Sozialversicherungen einzuzahlen, Anträge auf Unterstützung stellen. Zweitens wissen Politiker um die abstrakte Gefahr des „Sozialen Sprengstoffs“; ein Massenheer von Arbeitslosen hat schon einmal die ‘Stabilität der Demokratie’ und den ‘sozialen Frieden’ untergraben. Das „gesellschaftliche Problem Nr.1“ – also das Problem, das die Armut der Arbeitslosen der Gesellschaft beschert - hat nur die Politik. Ihr Kampf gegen dieses „Krebsübel“ gerät allerdings ebenso kompliziert wie erfolglos, denn die Idee, sie selbst könnte die Arbeit organisieren, die „der Gesellschaft fehlt“, weist sie von sich. Zur Organisation der Arbeit hat der freiheitliche Staat die Eigentümer der Produktionsmittel ermächtigt. Er selbst ist da ohnmächtig und will es bleiben. Denn auch er steht auf dem Standpunkt, dass nur Arbeit, die mehr Geld abwirft als den Lohn, den sie kostet, wert ist, verrichtet zu werden. Schließlich lebt auch der Staat von dem Überschuss über den Lebensunterhalt, der aus rentabel eingesetzter Arbeit herausgeholt wird – gleichgültig, ob dieser Überschuss als Steuer vom Bruttolohn oder vom Gewinn abgezogen wird. Die Aufgabe, Arbeit rentabel zu machen und nur rentable Arbeit anzuwenden, ist den Unternehmern überlassen; und die machen Arbeit für ihren Gewinn eben dadurch effizient, dass sie die Leute, die sie bezahlen, immer zweckmäßiger und intensiver ausnutzen, andere Arbeitskräfte und deren Löhne dadurch einsparen, sie also entlassen. Regierungen anerkennen die Arbeitslosigkeit als unerwünschte, aber unvermeidliche Nebenwirkung des nationalökonomischen Erfolgs, auf den es ihnen ankommt. Ihr Kampf gegen das doppelte Problem, das ihr Erfolgsweg mit sich bringt, kennt daher immer ein und dasselbe Mittel der Abhilfe: Mehr von dem Wachstum, das die Arbeitslosen schafft! Dadurch bleibt das Problem, an dessen Lösung sich schon mancher Kanzler messen lassen wollte, nicht nur erhalten, sondern verschärft sich mit dem Wachstum des Kapitals: Je mehr Arbeitslose herumlaufen, desto lauter der Ruf nach Wachstum; je größer die Armut der Arbeitslosen, desto eindeutiger die wirtschaftspolitische Diagnose, dass es den Reichen wohl an Gewinn und Gewinnchancen fehlen müsse.

... und seine höhere Deutung

Des banalen Faktums nehmen sich bürgerliche und systemkritische Deuter des Gesellschaftlichen an. Ihre gemeinsame Leistung besteht zunächst darin, das verlogene Gemeinschaftsproblem „Arbeitslosigkeit“, in dem gegensätzliche Parteien mit entgegengesetzten Interessen aufeinander treffen, zu einem echten Leiden der Gesellschaft aufzuwerten und aus den Millionen Arbeitslosen eine Krise der Gesellschaft zu machen. Als ob das kapitalistische System Vollbeschäftigung versprochen hätte oder sie gar für sein Überleben bräuchte, meinen die Krisenpropheten, dass es an der Arbeitslosigkeit zugrunde gehen müsse. Sie leisten sich ein sehr humanes Missverständnis der Produktionsweise, die neben überflüssigen also bettelarmen Volksteilen prima zu prosperieren versteht. Das Nebeneinander von Armut und Reichtum macht sie ja so „dynamisch“.

Andererseits behaupten sie gar nicht im Ernst ein ökonomisches Scheitern des ökonomischen Systems. Eine Existenzkrise wird erst daraus, wenn sie das Thema auf die höhere Ebene einer Gemeinschaftlichkeit heben, die es im Kapitalismus gar nicht gibt.

Die Soziologen: Der soziale Kitt wird knapp!

Soziologen machen gerne den Aufklärer – und das fällt leicht, gegenüber den Politikersprüchen wie „Arbeitslosigkeit halbieren!“ und „Beschäftigung schaffen!“ Sie wissen, dass das Problem tiefer liegt: Vollbeschäftigung ist unwiederbringlich vorbei. Der Versuch, zu ihr zurückzukehren, geht heutzutage einfach nicht mehr:

„Zwei Prozent Arbeitslose, Normalarbeit als Regelfall, soziale Identität und Sicherheit qua Job: Das ist Geschichte. Doch die Politiker bringen nicht den Mut auf, die bittere Wahrheit über das Ende der Vollbeschäftigung auszusprechen. Auf der ganzen Welt wächst die Zahl der sogenannten ‘dauerhaft vorübergehend Beschäftigten’...“ (Ulrich Beck, SZ-Interview, 20./21.März 99) „Wir können nicht davon ausgehen, dass wir die Arbeitsgesellschaft in alle Zukunft verlängern. Wir haben es in allen europäischen Staaten mit einer Umverteilung von Arbeitslosigkeit zu tun. In Deutschland ist es schon ein Drittel, in England die Hälfte, die nicht mehr in den normalen Arbeitsverhältnissen gesichert sind.“ (U. Beck, taz-Interview, 13.06.1997). „Wir werden uns auf den Zustand dauerhaft einrichten müssen, dass ein Großteil der Bürger beiderlei Geschlechts in „normalen“ Arbeitsverhältnissen kein Unter- und Einkommen findet“ (Claus Offe, taz. 6. 10.94).

Als Wissenschaftler sind sie um Ursachenforschung nicht verlegen. Sie wissen erstens von einer Notwendigkeit, zweitens von einem Subjekt, das sie hervorbringt, und drittens von einem, das betroffen ist. Freilich sind es nicht die Arbeitslosen, die von Armut betroffen sind, und nicht die Unternehmer, die sie betroffen machen, vielmehr spielen „Wir alle!“ beide Rollen. Das Kollektivsubjekt Mensch ist Täter und Opfer einer Entwicklung, der es hilflos ausgeliefert ist. „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte so groß ist, dass wir mit sehr viel weniger Arbeitskräften mehr Güter und Dienstleistungen erzeugen können“. „Der Mensch (!) ersetzt sich (!) durch intelligente Technologien“ (Beck, SZ-Interview) Ganz schön blöd, „der Mensch.“. Erst denkt er sich „Technologien“ aus, die ihm die Arbeit abnehmen, und schwups findet er sich in „prekären Arbeitsverhältnissen“ oder ganz ohne Einkommensquelle wieder. Seine schönen Produktivkräfte lassen den Reichtum anwachsen und den Arbeitsaufwand dafür schrumpfen, mit dem interessanten Resultat, dass „der Mensch“ dadurch immer ärmer wird. Die Dialektik des furchtbaren zugleich ganz unausweichlichen Fortschritts, den Soziologen beschwören, beweist nur, dass es das Kollektivsubjekt „Wir“, in dessen Namen sie sprechen, nicht gibt: Da verteilt eben nicht „die Gesellschaft“ die Arbeit unter ihren Mitgliedern, da treibt nicht „die Gesellschaft“ die Produktivität ihrer Arbeit voran. Wäre es so, wäre „die Gesellschaft“ also Subjekt dieses Fortschritts, dann könnte sie die Steigerung der Produktivität bei unerwünschten Folgen ohne weiteres stoppen. Derartige Folgen gäbe es in einem solchen Fall freilich nicht: Die Verringerung der notwendigen Arbeit würde allgemeinen Reichtum und wachsende Freizeit anstatt wachsender Armut zur Folge haben. Soziologen bestehen aber darauf, diese Gesellschaft feindlicher Interessen als Kollektiv zu deuten und den Gegensatz zwischen denen, die die Arbeit profitbringend anwenden, und denen, die vom Verkauf ihrer Arbeit leben müssen, in einen Selbstwiderspruch eines einheitlichen „Wir“ zu verfabeln: Die „Arbeitsgesellschaft“ zerstört ihre Grundlagen und gefährdet ihre Existenz.

Noch einmal anders: Soziologen bezeichnen die Wirtschaft, in der sich Kapital und Lohnarbeit gegenübertreten, als „Arbeitsgesellschaft“, sehen also deren Eigenart durch die denkbar unspezifische Eigenschaft charakterisiert, dass in ihr gearbeitet wird. Als ob nicht auch jede andere - feudale, sozialistische oder sonst eine - Gesellschaft binnen kürzester Zeit verhungern müßte, wenn sie das Arbeiten einstellte. Die Wortschöpfung, die eine ganze Theorie ist, behauptet die in jeder Gesellschaft nötige Arbeit als den speziellen Dreh- und Angelpunkt dieser Gesellschaft, der ihre Gliederung, die Stellung der Menschen in ihr, ihre Gesetze und Gebräuche bestimmt. Einmal wörtlich genommen stimmt an diesem Bild nichts: Nie hat die ganze Gesellschaft gearbeitet, nie wurden die Menschen – wie irrational das auch wäre – „mit Arbeit versorgt“, nie war Arbeit Grund und Quelle der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Noch immer gilt, dass die wirklich Reichen nicht arbeiten, aber darüber entscheiden, ob die Arbeit der anderen zustande kommt; und das tut sie nur dann und nur in dem Maß, in dem sie die Eigentümer der Produktionsmittel bereichert. Diesen gehört der gesellschaftliche Reichtum und wenn sie Teile davon als Lohn ausbezahlen, dann gilt als gerechte Teilhabe der Arbeitsleute daran immer genau das, was sie sich von ihren Löhnen kaufen können. Aber wem sagt man das? Es hilft nichts, Soziologen über das Funktionieren der Wirtschaft unterrichten zu wollen, es interessiert sie nicht. Sie sind entschlossen, die wirkliche Funktionsweise der Ökonomie zu ignorieren, weil sie es auf ein anderes höheres Funktionieren abgesehen haben, das sie jetzt scheitern sehen. Weil sie ihm sein Ende bescheinigen wollen, im Rückblick auf bessere Zeiten also, kommen sie auf die Idee, den Kapitalismus, für den sie früher andere Namen und andere Strukturprinzipien hatten , zur Arbeitsgesellschaft zu ernennen. Und nur wegen ihrer Idee eines höheren Funktionierens kommt ihnen der Anstieg der Arbeitslosigkeit von ca. 5% auf 10% derer, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, – 90% werden dafür nach wie vor verwendet – als ein Ende der „Arbeitsgesellschaft“ vor. Sie erfinden eine höhere Funktion der Arbeit und die halten sie für gefährdet.

„Arbeit war der große Integrator von Gesellschaft“, (Heinz Bude, Gespräch über einige Perspektiven der Arbeitsgesellschaft, taz v. 8.7.97), „Arbeit hat 200 Jahre lang als Kitt der Gesellschaft gedient“ (SZ-Artikel) Sie hat „den Zusammenhalt in der individualisierten Gesellschaft gesichert“ (Beck) „Gesellschaft, Demokratie und Freiheit ermöglicht“. (Beck).

Die höhere Funktion der Arbeit um derentwillen Soziologen ihre wirkliche Funktion ignorieren, ist das immer gleiche Produkt ihrer Abstraktionskunst: Arbeit wird zum gesellschaftsbildenden Prinzip ernannt: Sie schafft, dieser Sichtweise zufolge, nicht Produkte, nicht Lohn und Gewinn – jedenfalls nicht eigentlich – sondern nicht mehr und nicht weniger als die Existenz der durch sie strukturierten Gesellschaft, d.h. sie hält den Laden zusammen und seine Mitglieder bei der Stange. In ihrem Systemdenken wollen Soziologen gar nicht wissen, was für ein System jeweils vorliegt und worin sein Zweck besteht; als das geheime Prinzip jeder Gesellschaft entdecken sie immer dasselbe, nämlich dass sie ein System sei und immer ein und denselben Zweck hat: Selbsterhaltung. Da glaubt der Alltagsmensch, dass Unternehmer Arbeit für ihre Gewinnmaximierung verrichten lassen und dass Arbeiter um ihres Lohnes willen arbeiten, die unkritischen Schmarotzer des „stummen Zwangs der Verhältnisse“ wissen, dass die Akteure dadurch unbewusst etwas ganz anderes tun, auf das es viel grundsätzlicher ankommt: Sie bewerkstelligen das Funktionieren der Gesellschaft und reproduzieren ihren Bestand.

Der „Bedeutungsverlust“, den sie dem „Leitbild Erwerbsarbeit“ attestieren, drückt die Sorge darum aus, dass die Lohnarbeit ihre gesellschaftsbildende Funktion einbüßen könnte. Insofern sind die wissenschaftlichen Frühwarner der Systemstabilität der staatlichen Furcht vor „sozialen Sprengstoff“ verwandt, freilich nur verwandt. Wie der Staat anerkennen auch Soziologen die Beschädigung der Individuen, Armut und Verwahrlosung, als Problem nur in einer Hinsicht: Die Lumpen könnten der Gesellschaft Probleme machen und ihre Stabilität gefährden. Andererseits sind sie nur Analytiker und keine Propagandisten. Die Herstellung der Stabilität kennen sie per definitionem als Leistung ihres Gegenstands Gesellschaft. Sie ist die prozessierende Integration ihrer Mitglieder – und wenn diese Integration durch Erwerbsarbeit immer schlechter gewährleistet ist, dann wächst ein rettender neuer sozialer Kitt aus dem Leben der Gesellschaft von selbst heran: Neue Werte und Orientierung bilden sich automatisch, wenn der Mensch sich an Arbeit und Lohn nicht mehr orientieren kann.

Zu Kritikern der Politik werden die Wächter über ihren automatischen gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil sie bei ihr die Bereitschaft zu Anpassung an die Erfordernisse eines neuen „Integrationsmodus“ vermissen. U.Beck erklärt die Politiker mit ihrem „öffentlich zelebrierten Glauben an die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung“ (Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt/New York 1999, S. 93) zur Gefahr für die Gesellschaft. Weil sie nicht den Mut haben, von diesem unerreichbaren Ziel abzurücken, schaffen sie die trostlosen „Billigjobs“ a la „Jobwunder Amerika“, die der „Kitt“ gar nicht mehr sein können, der die gute alte Berufswelt war. Ohne Rücksicht auf Glaubwürdigkeit und auf gefährliche Wirkungen propagieren Politiker einen „Imperialismus der Arbeitswelt“, der alle gesellschaftlichen Bereiche nach seinen Werten zu formen beansprucht, der Selbstachtung und Lebensperspektive der Menschen definieren will – und dem doch keine Realität mehr entspricht. Die obsolet gewordenen Werte und Orientierungen der Arbeitswelt bewirken Frustration, führen zu einer Abwendung der enttäuschten Bürger von der Gesellschaft – und das alles nur, weil die Politiker ihr altes Denken nicht ablegen mögen und sich weigern, das veraltete Leitbild von der zentralen Rolle der Erwerbsarbeit gegen den neu entstehenden sozialen Kitt auszutauschen.

Das wäre so leicht. Wenn bisher die „Erwerbsarbeit“ Sicherheit, Lebenssinn, gesellschaftliche Teilhabe und dadurch Stabilität gestiftet hat, jetzt aber immer weniger zu haben ist, dann muß sich die Gesellschaft nur dazu bekennen, dass Arbeit und Anerkennung auch ohne Erwerb gewährt werden können. „Die Antithese zur Arbeitsgesellschaft ist nicht die Freizeitgesellschaft, sondern die Tätigkeitsgesellschaft“ (Beck), in der das „Tätigsein für selbstbestimmte und sinnvolle Ziele“ jenseits des Erwerbs ein Zweck in sich wird. Anläßlich dessen, dass der Integrator „Erwerbsarbeit“ nicht mehr zu haben ist - und nur deshalb -, lassen sich die Liebhaber echter Integration einfallen, wie wenig selbstbestimmt diese bisher doch gewesen ist. „Siebeneinhalb Stunden Werkeln am Tag und nach Tariflohn bezahlt“ (SZ) das ist nicht die freie und eigene Einordnung in das große Ganze, die echte Stabilität schafft. Die massenhafte Arbeitslosigkeit entdecken Soziologen als etwas ganz Positives, als Chance für „die Rückgewinnung demokratischer Kompetenz“, als „Zuwachs von Möglichkeiten, sozial zu handeln“ (M.Miegel). In freier „Bürgerarbeit“ kann der einzelne sich in die Gesellschaft einbringen. Dazu braucht „das Prekäre der neuen Arbeitsformen“ nur in ein „Recht auf diskontinuierliche Erwerbstätigkeit, in ein Recht auf frei wählbare Zeit umgewandelt“ (Beck) zu werden.

Ach richtig, da war ja noch etwas. Das liebe Geld. Als Randproblem bei der Realisierung ihrer soziologischen Phantasie fällt den gewissenhaften Theoretikern doch glatt noch das einzig echte Problem der Arbeitslosigkeit ein: Die Arbeitslosen haben kein Geld. Nur deswegen sind sie arbeiten gegangen, nur deshalb fehlt ihnen Arbeit. Dass sie Arbeit ohne Erwerb nicht suchen und nicht brauchen, hilft ihnen nichts. Allerdings anerkennen die Anbieter der neuen Integration per erwerbsfreier Bürgerarbeit, dass das Geldproblem gelöst werden muß. Zur Bürgerarbeit gibt’s dann eben ein „Bürgergeld“, oder eine „Grundsicherung“, die den Bürger frei macht für selbstbestimmtes Engagement zur Verschönerung der Gesellschaft. Kein Problem, so etwas muß die Politik nur beschließen. Wenn’s nur das ist, hätte die Politik ja auch gleich dafür sorgen können, dass Arbeitslose keine Geldprobleme bekommen, oder dass der Lebensunterhalt gar nicht erst an gewinnbringende Arbeit geknüpft wird, oder dass es bei der Wirtschaft um Versorgung geht und nicht um Profit. So maßlos wollen die Wissenschaftler beim Wünschen dann doch nicht sein: Den Unterpunkt ‚Finanzierung‘ seines neuen gesellschaftlichen Kitts löst der Modesoziologe Beck mit einer bunten Mischung aus Idealismus und Realismus:

„Wer das bezahlen soll? Eine Quelle des Bürgergelds sind beispielsweise die Unsummen, die in Europa in Form von Arbeitslosen- und Sozialhilfe dafür ausgegeben werden, dass jemand nichts tut. Der Empfänger von Bürgergeld leistet öffentlich wichtige und wirksame Bürgerarbeit, ist insofern nicht arbeitslos und bezieht für seine Leistung das Bürgergeld. Dieses setzt sich zusammen aus öffentlichen Transfergeldern, Drittmitteln des betrieblichen Sozialsponsorings, kommunalen Eigenfinanzierungen, sowie den Beträgen, die in der Bürgerarbeit selbst erwirtschaftet werden.“ (Beck, S. 128/129)

Wenn die Summen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die die Elenden ohnehin schon kassieren, mit kleinen Spenden der Großbetriebe, die diese Leute gerade aus Kostengründen entlassen haben, und mit städtischen Zahlungen für öffentliche Arbeit, die eigentlich nicht gemeint war, addiert werden und wenn die Bürgerarbeit dann auch noch eine Ware hervorbringt, die ein Käufer privat bezahlt, dann ist doch ein prima Einkommen beieinander - oder? Kein Wunder, dass die Verfechter der Bürgerarbeit bei so viel Realismus einer Verwechslungsgefahr vorbeugen müssen.

„Bürgerarbeit darf auf keinen Fall mit dem Zwang verwechselt werden, dem Sozialhilfeempfänger bei der Übernahme kommunaler Arbeit jetzt überall ausgesetzt werden.“ (Beck, S. 129)

Das mußte gesagt werden. An der Höhe der feinen „Grundsicherung“ entscheidet sich nämlich, ob soziale Idealisten sich zu Wort melden, die kapitalistisch spinnen, oder ob sich verantwortungsbewußte Gesellschaftswissenschaftler an die Neuinterpretation der existenten Armutsverwaltung machen, die diese unerwünscht wachsende Abteilung Staat vom Ruch des Asozialen und des Notbehelfs befreien soll. Die vielen sinnvollen Tätigkeiten, die den Verfechtern der Bürgerarbeit einfallen, wenn sie Vorschläge für freie und selbstbestimmte Betätigung machen, sind denn auch verräterisch: Gebrauchtwarenhäuser für den schmalen Geldbeutel, Beratung von Heimwerkern, die sich ihre Möbel selbst basteln usw. Die Konstrukteure des neuen sozialen Kitts wissen jede Menge unbefriedigter Bedürfnisse, die sich durch Nicht-Geld-Arbeit befriedigen ließen - alle nämlich, deren Befriedigung sich im Kapitalismus nicht zur Geldquelle machen läßt: Die sozialen Nöte halt. Ist das die Idee, dass auch Paupers sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft erfahren dürfen, wenn sie sich für Sozialhilfe und ohne weiteres Einkommen um die Nöte der Leute kümmern, denen es so geht wie ihnen, und die dadurch die Welt des kapitalistischen Reichtums vor Schaden bewahren?

Zum Glück für ihre Erfinder wird diese Frage niemals entschieden, weil aus der allgemeinen Einführung von Nicht-Erwerbsarbeit nichts wird. Mögen die soziologischen Phantasten ihr Projekt noch so brav und realistisch entwerfen, die verantwortlichen Politiker lehnen es ab und erhalten dieser schönen neuen Arbeitswelt dadurch das „Visionäre“. Sie bestehen darauf, dass Erwerbsarbeit die gesellschaftliche Norm zu bleiben hat. Der These vom Ende der Arbeitsgesellschaft und den angepeilten Ersatzlösungen entnehmen sie nur, dass sich da mit dem Segen der Wissenschaft in der Arbeitslosigkeit eingerichtet und ein Überleben gesucht werden soll. Sie aber verwalten einen Kapitalismus. Sie wollen nicht, dass Arbeitslosigkeit aushaltbar ist oder aushaltbar gemacht wird – alle Schritte in diese Richtung schwächen nur den Zwang zur Arbeit ab, dem die Menschen ungeschmälert ausgesetzt gehören – gleichgültig, ob sie Käufer ihrer Dienste finden oder nicht.

„Erwerbsarbeit bedeutet nun mal existentielle Absicherung. Alternativen sind soziale Transfers - und die müssen irgendwo erwirtschaftet werden. Nein ,nein: Der normale Mensch ohne großes Erbe muß über die Erwerbsarbeit sein Einkommen erzielen“.(Familienministerin Bergmann ZEIT-Interview vom 29.4.99)

Nachtrag: „Nieder mit der Arbeitsgesellschaft!“ – Ein „Manifest gegen die Arbeit“ fordert die Abschaffung einer soziologischen Erfindung

Dem aus der Sorge um die Haltbarkeit des kapitalistischen Ladens geborenen Gerede vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ schließt sich die Redaktion der Zeitschrift „Krisis“ mit – zunächst – entgegengesetzter Absicht an. Sie kann der Versuchung nicht widerstehen, die neueste Ausgeburt der Systemtheorie – von wegen „Krise des Integrationsmodus“ und „Wertewandel“ – als Beweis dafür zu zitieren, dass ihre Zusammenbruchstheorie richtig liegt: Endlich geben die Bürgerlichen selbst zu, dass ihre Wirtschaftsweise an die „Systemgrenze“ stößt! Für so viel Bestätigung machen die Krisis-Leute die durch und durch ideologische Diagnose gerne mit, um dann für eine abweichende Konsequenz zu plädieren: Abschaffung der „Arbeitsgesellschaft“. Methodisch müssen sie sich dafür nicht verbiegen. Denn die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, ihres Zwecks und ihrer Wirkungen, haben sie schon immer mit der – soziologischen – Aufdeckung von Funktionsdefiziten verwechselt. Die Aussage, dass die „Arbeitsgesellschaft ihre eigene Grundlage zerstört“, halten sie für den schärfsten Vorwurf, den sie der modernen Ausbeutung machen können: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen!“ Nur das? Und womöglich nur deswegen?

1.

Kritik, die mit der Krise argumentiert, enthält stets ein Kompliment an ihr Objekt: So lange der Laden funktioniert hat, gab’s nichts zu meckern – vielleicht nicht gleich für die Kritiker der „warenförmigen Vergesellschaftung“ selbst, wohl aber für alle, an die sich das Manifest richtet. Wenn die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ eine besondere Chance dafür sein soll, dass den Menschen die Augen aufgehen, dann muss das System bisher ja wohl so perfide gewesen sein, die Ansprüche der Menschen viel zu gut bedienen, als dass sie Gründe für den Umsturz hätten finden können. In Wahrheit hat die Polemik dagegen, was die normalen Leute von dem enormen Reichtum der Marktwirtschaft haben und was er sie kostet, nie unter einem Mangel an Stoff gelitten. Aber das war eben nicht die Sache der Krisis. Sie kritisiert am Kapitalismus seinen – vermeintlichen - Niedergang als eine Katastrophe für die Gesellschaft und findet deshalb, wie viele, die massenhafte Nicht-Benutzung von Lohnarbeitern für den Profit als Kritikpunkt viel einleuchtender als deren Benutzung. Die „kollabierende Arbeitsgesellschaft“ fordert „Menschenopfer im Weltmaßstab“, treibt die Gesellschaft in eine „neue Apartheid“, lässt den „Ausgestoßenen“ keine Chance, usw. Das Manifest ruft nicht zu einer materialistischen Bewertung des Lebensmittels Kapitalismus auf, sondern setzt auf den scheiternden Materialismus als Chance zur Besinnung.

2.

Für den Anschluss an den mainstream des Krisengemurmels haben die Autoren ihr Lehrgebäude dann aber doch ein bisschen reformiert: Bisher stand das Kapital im Zentrum ihrer Theorie vom notwendigen Zusammenbruch: Sie nannten es eine „sinnlose Selbstzweckmaschine“ und ein „automatisches Subjekt“, das die Menschen beherrscht und die Gesellschaft in die Selbstzerstörung treibt. Diese Rolle hat jetzt das ausgenutzte und ziemlich schlecht behandelte Instrument der Verwertung des Kapitals übernommen: die Arbeit. Der Rollentausch zwischen dem Zweck der Ökonomie und seinem Mittel ist entscheidend: Die Unterwerfung der Arbeit, d.h. der Arbeiter unter die Ansprüche der Profitmacherei, sowie die Wirkungen, die diese Unterordnung auf Lohn, Lebensstandard und Leben der Betroffenen hat, war alleweil das kritische und revolutionäre Argument. Warum sonst, wenn nicht wegen der lebenslangen Arbeit, Arbeitslosigkeit und Armut, die der Kapitalismus seinen Normalbürgern beschert, sollte man ihn kritisieren und abschaffen wollen? Die Autoren des Manifests halten den Unterschied zwischen dem Zweck der Ökonomie und seinem Mittel, das entsprechend schäbig aussieht, für unerheblich. Es kommt ihnen offenbar weniger darauf an, wer oder was nun wirklich herrscht, und welche Folgen das hat, als auf die gegen den Inhalt invariante Entfremdungslehre, dass da irgendein „absurdes Zwangsprinzip“ über lebendige Menschen regiert. Weil es nur um die Metapher für „irrationalen Selbstzweck“ geht, eignet sich der „sterbende Arbeitsgötze“ ebensogut, wie vorher der Fetisch Kapital.

„Gerade in ihrem Tod entpuppt sich die Arbeit als totalitäre Macht, die keinen anderen Gott neben sich duldet.“

In derart religiösen Bildern redet die „Krisis“ von der Benutzung und der Nichtbenutzung der Lohnabhängigen für die Kapitalverwertung; sie verbildlicht damit aber nicht etwa einen vom Bild unterscheidbaren ökonomischen Gehalt, sondern denkt gar nichts anderes als ihr Bild: Sie vertritt allen Ernstes, dass die Menschen einer „Arbeitsreligion“ huldigen, dass sie sich die Arbeit zu einem Höchstwert erkoren haben, dem sie sich, wie einem selbstgeschnitzten Götzenbild unterwerfen. Ganz in der Tradition der Religionskritik rufen die Autoren des Manifests ihre Adressaten dazu auf, sich von der Macht der eigenen Einbildung, d.h. von der eingebildeten Macht der Arbeit zu befreien.

3.

Befreien sollen sich die Menschen nicht etwa von der kapitalistischen oder der Lohn-Arbeit, sondern von der Arbeit schlechthin - jener nützlichen Tätigkeit, mit der der Mensch die Natur seinen Bedürfnissen zurecht macht. Denn, so die Autoren, Arbeit ist unter allen Umständen, in denen das Wort angebracht ist, ein irrationaler Selbstzweck, der den lebendigen Menschen zerstört. Ein Blick auf die verkorkste Persönlichkeit heutiger Arbeitskräfte sagt ihnen da alles.

„Arbeit bildet Persönlichkeit, sagen sie. Zu Recht. Nämlich die Persönlichkeit von Zombies der Warenproduktion, die sich ein Leben außerhalb ihrer heißgeliebten Tretmühle gar nicht mehr vorstellen können“

Wissen die Autoren nicht, dass die Lohnabhängigen ihre Arbeit keineswegs für ein Vergnügen und einen Selbstzweck halten und sehr wohl die Bedürfnisse kennen, derentwegen sie sich dem Zwang zum Geldverdienen unterziehen? Natürlich wissen sie das; am Beispiel der Not von Arbeitslosen zitieren sie selbst den Zwang der Verhältnisse, die es jedem, der nicht verhungern will, nahelegen, sich um Arbeit für fremden Gewinn zu bewerben. Dass die Lohnabhängigen dieser Erpressung nachgeben; dass sie zweitens bestreiten, erpresst zu sein, stattdessen den einzig erlaubten Weg, an Lebensmittel zu kommen, als die ihnen gemäße Erwerbsquelle akzeptieren, dass sie drittens auf ihre Leistung auch noch stolz sind, sich eine Arbeitsmoral zulegen, sich und andere danach begutachten, ob sie anständig arbeiten und „etwas beitragen“ oder schmarotzen, – das alles durchschauen die Krisis-Leute nicht als den Selbstbetrug von Erpressten. Während die im Kapitalismus Befangenen einem äußeren Zwang gehorchen und das um der Idee ihrer Freiheit willen leugnen, steht die Welt der Autoren auf dem Kopf: Sie können nirgends einen Zwang erkennen, sehen sich deshalb von lauter Spinnern umgeben, die begeistert und völlig frei einem Idealismus der Arbeit um der Arbeit willen frönen.

4.

.... Soziale Emanzipation kann heute nicht die Umwertung der Arbeit, sondern nur die bewußte Entwertung der Arbeit zum Inhalt haben.“

Gegen den falschen Höchstwert, den sich die verblendeten Menschen gewählt haben, setzt das Manifest das Schlechtmachen der Arbeit und die Propaganda schönerer Werte: In dem Wahn, die Menschen wären verrückte Workaholics und hielten Arbeit für ein Genußmittel, wirbt das Manifest für eine „Kultur der Muße, die Wiederentdeckung der Langsamkeit, ja Faulheit“ aber auch für Tätigkeiten jenseits der Arbeit, die eines wahrhaft menschlichen Subjekts würdig wären: Ein Buch schreiben, ein Gärtlein anlegen, Musik machen, Kinder aufziehen. Lauter „sinnvolle Tätigkeiten“, die auf Höheres zielen als auf die Banalität eines nützlichen Produkts.

Unter lauter Berufung auf Marx kritisieren die Krisis-Autoren nicht die kapitalistische Arbeit, sondern tatsächlich die Arbeit selbst. Marx hatte die kapitalistische Arbeit abstrakt genannt; sie halten Arbeit schlechthin für abstrakt, für eine nicht korrigierbare „kapitalistische Formbestimmung“: „Erst das moderne warenproduzierende System hat eine besondere, aus allen anderen Beziehungen herausgelöste, von jedem Inhalt abstrahierende Sphäre der sogenannten Arbeit hervorgebracht - eine Sphäre der unselbständigen, bedingungslosen und beziehungslosen, roboterhaften Tätigkeit, abgetrennt vom übrigen sozialen Zusammenhang“. Das vielfache „un-„, „-los“ und „abgetrennt“, macht deutlich, dass die Trennung zwischen der Arbeit und dem Nutzen des Arbeitenden höchstens noch ein Beispiel für ein viel grundsätzlicheres Abgetrennt-Sein ist: Im Urteil der Krisis-Redaktion ist Arbeit abstrakt, weil sie überhaupt eine besondere Sphäre des Lebens ist und nicht „eingbettet“ ist „in soziale und kulturelle Traditionen mit wechselseitigen Verpflichtungen“. Sie misst die Tätigkeit, die nützliche Dinge herstellt, ähnlich wie die verachteten „bürgerlichen Soziologen", an einer gemeinschaftsbildenden Leistung – und vermisst diese in der „Arbeitsgesellschaft“. Das „Manifest“ plädiert gegen die Arbeit und für „sinnvolle Tätigkeit“, aus der die Menschen lauter ideelle und höhere Befriedigungen – Heimat und Lebenssinn – ziehen und nicht nur die Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Und es fordert, dass sie dabei alles andere im Kopf haben sollten – Gemütlichkeit, soziale Kontakte, zwischenmenschliche Verpflichtungen - nur nicht die zweckmäßige Erledigung einer Notwendigkeit. Aber die Arbeitsroboter merken den Verlust an Humanität ja gar nicht mehr!

5.

Dafür merkt ihn das Manifest um so deutlicher: Es kritisiert den Kapitalismus als Charakterfehler der ihm Unterworfenen, propagiert also selbst ein sehr bürgerliches Ideal von Charakter und Subjektivität. Es spricht seine Adressaten nicht als die Subjekte an, die sie sowieso sind, um ihnen die kapitalistische Arbeit als schlechtes Mittel ihrer Interessen auszureden, sondern ruft die entsubjektivierten Arbeitszombies dazu auf, sich vor ihrer Subjektlosigkeit zu ekeln, Subjekte erst wieder zu werden und sich die Ideale von Freiheit, Anstand, Ehre und Selbstachtung zu Herzen zu nehmen - das alles in der von den Autoren selbst bezweifelten Hoffnung, dass die angesprochenen Untoten noch einen Funken dieses ekelhaften Bürgerstolzes in sich spüren. „In einer Welt, in der es noch menschliche Selbstachtung gibt, müsste diese Aussage den sozialen Aufstand provozieren. In einer Welt von domestizierten Arbeitstieren wird sie nur ein hilfloses Kopfnicken hervorrufen.“ Was sich an hundert Stellen des Manifests wie absurde Übertreibungen der kapitalistischen Tatbestände liest, ist ihre Umdeutung in einen Verstoß gegen den Artikel 1 des Grundgesetzes. Billiglohn und Armut, Verdrängungskonkurrenz und Umweltzerstörung verletzen nicht den Materialismus der Betroffenen, sondern ihre Menschenwürde: Mitten in der Welt der freien Privateigentümer berichtet das Manifest von lauter Arbeitssklaven und Knechten. „Als Mensch wird nur noch anerkannt, wer zur Bruderschaft der feixenden Globalisierungsgewinnler gehört.“ „Die neuen Armen dürfen den restlichen Business-Men der sterbenden Arbeitsgesellschaft die Schuhe putzen,“ andernfalls sind sie „lästiger Humanmüll“.

Alles, was bürgerlichen Moralisten heilig ist, zerstört der Arbeitsgötze dadurch, dass er die Gesellschaft nicht mehr gescheit beherrscht: Kultur, Solidarität, Geschmack, das Denken, die Fähigkeit zur politischen Regulation, Freiheit und Menschenwürde – alles Wahre, Gute und Schöne wird vom Untergang der Arbeitsgesellschaft mitgerissen. Nur durch eine entschlossene Absage an den verkehrten Wert kann diese Zivilisation noch vor der Barbarei gerettet werden. Und das soll sie offenbar! Auch das ist konsequent, wenn Krise das Argument der Kritik sein soll: Wer vor dem Untergang warnt, will etwas bewahren.

6.

Im Ergebnis sind die Autoren des Manifests von den Soziologen nicht so weit entfernt: Beide vertreten, dass sich die Gesellschaft von dem hohen Stellenwert, den sie der Arbeit beigemessen hat, lösen müsse. Anders aber als die Soziologen, die die Welt automatisch auf dem richtigen Weg sehen, sehen die Krisis-Leute sie auf dem Weg in den Untergang. Sie analysieren nicht den Wertewandel, der nach soziologischer Auffassung schon unterwegs ist, sie predigen ihn und fordern die entmenschten Arbeitstiere auf, der historischen Krisenlage ihres Existenzmediums, der Arbeitsgesellschaft, zu entsprechen, sich ihrer Verantwortung als Menschen würdig zu erweisen, und gefälligst den „Ausgang aus ihrer selbstverschuldete Unmündigkeit“ zu nehmen. Immanuel Kant, Adorno und andere Philosophen haben auf ähnliche Weise ihre Unzufriedenheit mit dem Pöbel und seinem Götzendienst am schnöden Mammon zum Ausdruck gebracht. Auch das kann man eine Kapitalismuskritik nennen.