GegenStandpunkt

Moral

Das gute Gewissen der Klassengesellschaft

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Die paar Sachen, auf die es wirklich ankommt in der kapitalistischen Gesellschaft und ihrem demokratischen Staat, werden von den subjektiven Auffassungen über sie, von der Billigung durch die Leute nicht abhängig gemacht. Daß auf seiten der “Betroffenen” die verschiedensten Leistungen und ihr Gehorsam kalkuliert und bedingt, also stets widerrufbar erbracht würden, ist weder in den Instituten des Rechtsstaates noch sonstwo vorgesehen.

In den Betrieben einer modernen Nation ist “Arbeitsmoral” ein Fremdwort geworden: Die Leistungen, für die Lohnzahlungen sich lohnen, sind den Arbeitsmitteln einprogrammiert - als “technischer Sachzwang”, der den eingestellten Arbeitern wenig zu entscheiden übrigläßt. Zur totalen Verfügbarkeit für den “Arbeitsmarkt” und die “Arbeitgeber” braucht ein Zeitgenosse sich schon gar nicht eigens zu entschließen; der ökonomische “Sachzwang “ des Geldverdienens und die vom Sozialstaat eingerichtete Alternative der Verelendung sorgen dafür. Der Staat, der mit seinen Gesetzen alle ökonomischen Zwänge erst in Kraft setzt, überläßt den Respekt vor seinen Entscheidungen erst recht keiner Privatmeinung. Verwaltung und Polizei machen eine Existenz außerhalb der staatlichen Festlegung von Rechten und Pflichten unmöglich; ihre Dienste an einem bürgerlichen Dasei aller Individuen stellen sie niemandem zur Wahl. Eine moderne Staatsgewalt konkurriert nicht mit anderweitigen Vorlieben ihrer Bürger, sondern regelt das Geschehen souverän mit Hoheitsakten. Der Laden läuft, ohne daß die Politiker ihre wahlberechtigten Massen zu den Dienstleistungen, die sie zu erbringen haben, erst überreden müßten. Nicht einmal die Politiker selbst, geschweige denn die Manager des Geschäfts müssen unbedingt ihren “Aufgaben” von Herzen zugetan sein, damit die Akkumuiation des Reichtums und die politische Indienstnahme des Volkskörpers ihren Gang gehen. Die Konkurrenz der Macher untereinander stellt sicher, daß eine fehlende “Leistungsmotivation” an wichtiger Stelle keinen wichtigen Zweck zum Kippen bringt. Die politische Gewalt im modernen Staat und die durch sie in Kraft gesetzten gesellschaftlichen Interessen bestimmen vielmehr den Willen der betroffenen Subjekte so, daß sie gar nicht mehr als die Wirkungen von Herrschaft daherkommen, sondern als unverzichtbare Voraussetzungen für das Treiben der verwalteten Massen. Der Zwang der Staatsgewalt und die Zwänge des kapitalistischen Wirtschaftslebens sind so unbestreitbar wie Naturgegebenheiten - und rufen ausgerechnet dadurch die Freiheit der Individuen auf den Plan, alle diese “selbstverständlichen” Lebensbedingungen wie MitteI anzusehen, auf die “man” nun einmal verwiesen ist. Sie bieten sich als geeignete Einrichtungen an - für eine bürgerliche Lebensführung, die weiter keinen übermäßigen Einschränkungen unterliegt: Keine demokratische Obrigkeit diktiert ihren Bürgern bestimmte Arbeitsplätze, Wohnorte oder Familienverhältnisse zu; Willkür der Herrschenden ist grundsätzlich durch Rechtssicherheit ersetzt. Jedes Subjekt nimmt sich in diesen Verhältnissen vor, worauf es ihm ankommt - und braucht sich darin weiter keine Vorschriften machen zu lassen. Die Errungenschaft der Banknote und die erlaubten Formen ihres Erwerbs, der freie Wohnungsmarkt samt sozialen Beihilfen, das Standesamt und die Lohnsteuerkarte mit ihren Rubriken für ‚verheiratet‘ und ‚Kinder‘ sind der individuellen Freiheit als Mittel ihrer Betätigung an die Hand gegeben. Insofern hat ein jeder im bürgerlichen Klassenstaat und dessen ökonomischen Einrichtungen eine Welt voller - allenfalls unterschiedlich verteilter - Chancen vor sich.
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